Familie in Naziland
Eine Seite aus dem Kriegstagebuch des
Vaters meiner Mutter.
Walther Scheller war
der Name.
113 [handschriftlich Seitenzahl] 16. Mai 1944
Faschismus und
Familie.
In der Stadt
B. hat kürzlich ein Vater seinen 14jährigen Sohn und dann
sich selbst erschossen.
Der Tat lag
folgender Anlass zugrunde:
Der Junge war ungehorsam, und der Vater wollte
ihn dafür züchtigen.
Der Sohn erklärt:
„Ich bin in meiner H.J.Uniform, da darfst du
mich nicht schlagen.“ Wenn
du es doch tust,dann zeige ich dich an und
auch das werde ich zur Anzeige
bringen, dass du ausländische Sender gehört
hast.“
Der Vater schlägt den Jungen.Dieser geht fort
und erstattet die Anzeige.
Nach seiner Rückkehr teilt er das dem Vater
mit. Darauf zieht dieser
s einen
Revolveraus der Tasche und tötet den Sohn und sich selbst.
Eine so krasse
Form des Konfliktes zwischen Eltern und Kin
dern ist natürlich eine Ausnahme.Aber der
Konflikt als solcher ist einer
von unzähligen Fällen, in denen politische
Gegensätze mit völliger Ver-
feindung von Familienmitgliedern Hand in Hand
gehen.
Dieser 14jährige Junge ist das
charakteristische Produkt der heutigen
nationalsozialistischen Erziehung.Er ist Geist
vom nationalsozialistischen
Geist.Der Faschismus hat den Zwiespalt, die
Uneinigkeit,den Unfrieden in
die Familien hineingetragen. Er hat das
Autoritäts-und Vertrauensverhält-
nis zwischen Eltern und Kindern untergraben.
Glücklicherweise ist ein nicht kleiner Teil
der deutschen Jugend ange-
sichts der erschütternden Kriegsereignisse an
der Unfehlbarkeit der natio-
nalsozialistischen Denkweise bereits irre
geworden, und es verhält sich
jetzt schon vielfach so, dass der Sohn,
welcher durch das Kriegserlebnis
hindurchgegangen ist, sich von seinen
faschistischen Eltern abwendet.
Dieser Tatbestand ändert aber nichts an der
Tatsache, dass das faschistische
Denken,zu dessen Wesen die Bejahung von Hass
und Krieg, von Härte und Grau-
samkeit gehört, die Tendenz zeigt, überall
da,wo sich seine Einflusssphäre
befindet, zersetzend, vernichtend, schädigend,
auflösend zu wirken.
Dieser jugendliche Musternationalsozialist
scheut nicht davor zurück,
den eigenen Vater zu denunzieren. Er wäre dazu
nicht fähig gewesen, wenn er
nicht das Gefühl einer Gehorsamsverpflichtung
und einer Zugehörigkeit
dem Vater gegenüber verloren hätte und wenn
nicht das Gefühl einer reli-
giösen Abhängigkeit von ewigen Geboten in ihm
erstorben wäre.
Das Verhalten dieses Knaben ist nur denkbar
und verständlich unter der
Voraussetzung längerer und tiefgreifender
nationalsozialistischer Beein-
flussung.
[Abschrift aus Schreibmaschinenblatt
190726 evg][Abstände und Nicht-Abstände wie im Typoskript]
Der Vater meiner Mutter war 1885 geboren. Er hatte 1920 in Minden eine Kantgesellschaft
gegründet, und diese Anfang der 30ger Jahre aufgelöst. Er hatte Bücher
geschrieben, in 1930 „Als die Seele
starb. 1914-1918 Das Kriegserlebnis eines Unkriegerischen.“ Pazifist. Er bekam
dann, als Gymnasiallehrer, Berufsverbot, seine Bücher waren bei der Verbrennung
dabei.
Seine Tochter, meine
Mutter, war keine 12 Jahre alt, als der totale Staat begann, sie war keine 24 Jahre, als der zerstört war.
Sie hat vor dem Krieg die Schule verlassen und auf einer landwirtschaftlichen
Hausfrauenschule gelernt und dort alle Tätigkeiten ausgeführt, bis auf das
Schlachten der Hühner. Sie hat im Arbeitsdienst bei Familien morgens verkackte
Windeln ausgekocht und mittags in dem selben Topf Kohl gekocht.
Sie hat in Munitionsfabriken Endkontrolle durchgeführt und manipulierte
Granaten zurückgehen lassen. Die sollten unseren Soldaten in den Händen explodieren. Sie wurde ob der Ausschußquote zum Chef
vorgeladen. Zeigte die Manipulationen
dem Chef, der wurde blaß. Sie wurde dann kurz darauf an der Stelle abgelöst.
Hatte Freunde, die sie da rausholen wollten. Sie wollte aber nicht.
Hatte Zugang zu den
Kreisen ihres Vaters. Hörte dort Thomas Mann im Feindsender. Fand sie nicht
gut. Haßerfüllte Stimme, hat sie gesagt.
Ihre Loyalitäten in beide Richtungen hat sie wohl getragen. Auch das ist
Merkmal eines Menschen, die ihre Bindungen trägt.
Es war glaube ich
noch in ihrer Grundschulzeit in den Zwanzigern, dass bürgerliche Töchter und Arbeitertöchter
in zwei Reihen in der Klasse saßen. Wenn eine der bürgerlichen Mädchen etwas
verschüttet hatte, dann wurde einer der Arbeitertöchter gewunken, das wieder
aufzuwischen. Meine Mutter war eine der
Bürgerlichen. Sie hat den Vorgang zur Kenntnis genommen.
Reproduktion: Die Reproduktion der Familie besteht in etwas anderem, als ein paar Kinder dem Strohof-Staat zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört Wille zur Reflektion und Vermittlung der Fähigkeit dazu. Dazu gehört Eingedenken. Die Bereitschaft ein Bild über die Generationen hinweg zu sehen, zu zeichnen, weiterzuarbeiten. Bereitschaft sich in die Geschichte heineinzustellen.
Reproduktion der
Familie ist die Arbeit, dass aus den Töchtern keine Strohofs und aus den Söhnen
keine Bombors werden.
Das bedeutet Bildung. Bildung durch Mutter. Bildung durch Vater.